Sagen & Märchen zum Vorlesen

Vier Geschichten aus den Sammlungen Sagen und Märchen aus Oberhessen und Märchen - Sagen und historische Berichte aus den Regionen Gießen, Vogelsberg und Wetterau, zusammengetragen von Theodor Bindewald (1828-1880), sozusagen als Antwort auf die europäische Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Bindewald hat auch Beziehungen zu Goethe: Seine Ehefrau war Luise Christine Buff, eine Großnichte von Charlotte Buff aus Wetzlar, die, neben anderen, Goethe zu seinem größten Erfolg Die Leiden des Jungen Werther inspiriert hat.

Wir sind stolz, dass in seiner Märchensammlung die Herrenmühle namentlich erwähnt wird.


Die letzte Schlossjungfrau zu Merlau

Das Merlauer Schloss sollen drei weiße Jungfrauen erbaut haben, wie jedermann in der Umgegend weiß. Von ihnen ließ sich zuletzt, als schon das Schloss wüste stand, nur noch eine sehen, die hatte ihren Gang immer nach der Herrnmühle, war weiß angetan von Kopf bis zu Fuß und trug mit Seufzen ein großes Bund Schlüssel in der Hand. Man hat nie gehört, dass sie einen Menschen angesprochen hätte. Wie aber der Schlossplatz dem Erdboden gleichgemacht und die letzte Mauerwand weggebrochen wurde, sah man sie noch einmal vor Sonnenaufgang am alten Wallgraben sitzen und immer dünner und durchsichtiger werden, bis sie, gleich dem Morgennebel und Tau der Wiesen vor dem kommenden Tageslichte in Duft zerfloss. Seitdem hat alle Spur von ihr aufgehört.

(Quelle: Sagen und Märchen aus Oberhessen und Märchen - Sagen und historische Berichte aus den Regionen Gießen, Vogelsberg und Wetterau.)


Der schlafende Schäfer vor dem Merlauer Schloss

In der heiligen Adventszeit ging einer der alten Schäfer von Merlau vor dem Schlosse her und konnte es sich garnicht deuten, warum die Luft auf einmal so schwül war und ihn ein so unwiderstehliches Gelüste überkam, am hellen Mittag sich hinzulegen und zu schlafen. Weil aber gerade ein großer Quaderstein vom Schlossbau in der Nähe lag, säumte er sich nicht lange, streckte sich auf den Boden hin und lehnte das Haupt zurück, indem er seine Hand über die Augen hielt. Kaum hatte er etliche Minuten im Halbschlaf gelegen, als er eine über alle Beschreibung liebliche Musik gerade unter sich in der Erde vernahm. Vor Erstaunen rieb er sich die Augen und hörte noch alles ganz deutlich. Aber nun stand auch eine hohe, weiße Gestalt mit tiefliegenden dunklen, großen Augen und schwarzen Haaren vor ihm und hielt ihm einen Schlüsselbund vor das Angesicht. Erschreckt drehte sich der Schäfer auf die andere Seite um, doch sie schwebte über ihn hin und reichte auch hier ihm die Schlüssel eifrig entgegen. Jetzt sprang er auf und achtete nicht auf sie, obschon sie zum dritten Male ihm die Schlüssel aufdringen wollte. Im selben Augenblick hörte er einen furchtbaren Knall, die Gestalt aber war verschwunden. Glüklich kam er heim zu Weib und Kind und erzählte alles. Ein Leid hatte ihm die weiße Frau nicht zugefügt, auch kein Wort gesprochen, aber ihre Gebärden waren so flehend und jämmerlich gewesen, dass es den Schäfer immer gereute, ihren Wunsch nicht erfüllt zu haben.Doch sie erschien ihm nie wieder.

(Quelle: Sagen und Märchen aus Oberhessen und Märchen - Sagen und historische Berichte aus den Regionen Gießen, Vogelsberg und Wetterau.)


Das verwundete Konfirmandenkind

Die Dorfkirche zu Merlau war längst baufällig geworden, und der Gottesdienst wurde in dem sonst so schönen Schlosse gehalten, dessen einer Teil noch wohl erhalten, aber ganz unbewohnt war. In einem Seitengebäude, der sogenannten Kanzlei, gab dazumal der Pfarrer den Konfirmandenunterricht. Da geschah es denn sehr häufig, dass die Kinder aus der Pfarrei auf den geistlichen Herrn warten mussten und sich die Langeweile vor dem Beginn der Stunde mit allerlei oft unziemlicher Kurzweil in den leeren Gemächern des Schlosses vertrieben. Gewöhnlich spielten sie Versteckens und durchtobten in lauter Fröhlichkeit die stillen Räume. Ein blutarmes Waisenkind hatte bei solch einer Gelegenheit sich immer nach einem guten Verbergungsort umgesehen und war endlich in ein Zimmer geraten, in dem sich ein mächtiger alter Ofen befand. Unter diesen kroch es und hielt den Atem an, so dass es seine Kameraden richtig nicht fanden. Indem schlug es auf dem Turme elf Uhr, und eben wollte es sein Versteck verlassen, weil um diese Zeit der Pfarrer kam und es also fort musste, als seitwärts aus einer Tür, die es bis dahin sich garnicht erinnerte, je gesehen zu haben, die weiße Frau ganz träumerisch herausschritt und mit einem paar Schlüssel, die sie zwischen dem Daumen und Zeigefinger emporhielt, auf das vor Schreck erstarrte Kind losschwebte. Dieses wusste sich nicht anders zu helfen, als mit einem raschen Sprunge nach dem Ausgang zu eilen. Hier vertrat ihm aber die weiße Frau den Weg, streckte ihm die Schlüssel entgegen und rief: "Nimm sie, nimm sie!" Doch das Mädchen wischte ihr unter dem Arme hindurch und riss die Tür weit auf. Darüber ward die weiße Frau voll ingrimmigen Zornes, ließ das unbarmherzige Mädchen laufen, warf ihm aber die Schlüssel nunmehr so heftig an den Kopf, dass es rücklings zu Boden stürzte und das Blut ihm übers Angesicht floss. Dann verschwand sie ebenso unmerklich wie sie gekommen war. Lange lag das Mädchen in tiefer Betäubung, endlich raffte es sich auf und wollte in die Konfirmandenstunde. Doch diese war schon eine geraume Weile zu Ende und die Uhr weit vorgerückt. Die Zeit war ihm hingeflogen, es wusste nicht wie, und jedermann würde seine Erzählung für einen Lug gehalten haben, wenn man nicht den Abdruck der Schlüssel noch lange an seinem verwundeten Kopfe gesehen hätte.

(Quelle: Sagen und Märchen aus Oberhessen und Märchen - Sagen und historische Berichte aus den Regionen Gießen, Vogelsberg und Wetterau.)


Das Ziegelteichbörnchen bei Merlau

Wo ehedem das Schloss zu Merlau stand, ist ein Börnchen, das Ziegelteichbörnchen; das steht in hohem Ansehen mit seinem Wasser, nicht bloß im Dorfe, sondern in der ganzen Gegend. Sein Wasser hilft den Kindbetter'schen, wenn's bei der Geburt schwer zugeht, und wenn Leute irgendwo auf dem Abschied liegen, holt man es ihnen zum Labetrunke. Aus diesem Börnchen stammen alle Merlauer.

(Quelle: Sagen und Märchen aus Oberhessen und Märchen - Sagen und historische Berichte aus den Regionen Gießen, Vogelsberg und Wetterau.)



Zwei Märchen aus der Dorfgeschichte, zusammengetragen und aufgepeppt von Regula Preisendörfer:


Die Drei Jungfrauen vom Merlauer Schloss

Vor langer, langer Zeit, als die Menschen sich noch Märchen erzählten, kamen drei Jungfrauen nach Merlau. Und weil es dort so schön und friedlich war, beschlossen sie zu bleiben und bauten sich ein wunderbares Schloss mit vielen Fenstern und legten einen Garten an, in dem es nur so blühte und grünte. Sie ließen einen Springbrunnen errichten und verbrachten viele Stunden mit dem kühlen Nass und ihren Lieblingsspielen im Garten. Antonella, Anunzia und Austina mussten immer alleine spielen, sie hatten keine Freundinnen, obwohl sie freundlich waren. Es kamen keine anderen Mädchen aus dem Dorf zum Schloss, denn diese mussten schon arbeiten und zuhause im Haushalt oder bei der Stallarbeit und auf den Feldern helfen.

Eines Tages kam eine Ritterbande ins Dorf. Sie eroberte das Schloss und verbrannte die Fahne auf dem Turm. Antonella und Anunzia wurden in ihre Zimmer gesperrt. Nur Austina blieb unentdeckt. Sie hatte sich in der Schlosskapelle neben dem Altar versteckt. Da die bösen Ritter nicht zum Beten in die Schlosskapelle gingen, fanden sie die Jungfrau nicht. Der Anführer der Bande war Gustav der Schreckliche. Viele glaubten, er sei unverwundbar, und jeder hatte Angst vor ihm. Man erkannte ihn gleich: In seiner Rüstung hatte er am Bauch eine Delle. Er war dort einmal von einer Kugel getroffen worden, wurde aber nicht verletzt. Genau so eine Delle hatte er auch in seinem Schuld. Seit diesem Vorfall zog er seine Rüstung nicht mehr aus. Ein ganz besonderes Kennzeichen von Gustav dem Schrecklichen war sein Schwert. Die Klinge war an beiden Seiten wellig, und der Griff des Schwertes endete mit einem Adlerkopf mit spitzem Schnabel. Niemand sonst hatte auch nur ein ähnliches Schwert.

Die Aussichten auf Freilassung der beiden Jungfrauen waren schrecklich und es lief ihnen eiskalt den Rücken herunter. Doch Austina schlich sich vorsichtig aus der Kapelle und aus dem Schloss. Sie rannte zum Tor hinaus und direkt in das Dorf. Auf dem Schloss bemerkte es keiner. Sie lief zum Pfarrer und erzählte ihm die Geschichte. Dieser lief in die Kirche und versammelte bald die ganzen Dorfbewohner um sich. Zusammen schlichen sie zum Schloss, jeder hatte eine Stück Schmierseife in der Hand. Die Ritterbande feierte gerade im Rittersaal. Austina zeigte den Merlauern die lange Treppe, die vom Schlosshof zum Rittersaal hinauf führte. Diese Treppe wurde nun von oben bis unten mit Seife eingeschmiert. Danach stellten sie sich in den Hof und fingen an zu schreien: "Gustav, alter Rittersmann, hast ja keine Hosen an!" - "Gustav, großer Ritterschreck, läufst vor kleinen Mäusen weg!". Da ging die große Tür vom Rittersaal auf, und Gustav der Schreckliche kam heraus. "Das werdet ihr bereuen!" schrie er und rannte zur Treppe und... Holterdipolter... purzelte er die ganze Treppe hinunter. Es hörte sich an wie eine rollende Blechdose. Unten blieb er auf dem Rücken liegen, die Rüstung war verbeult, er könnte nicht mehr aufstehen und zappelte wie ein Maikäfer. Als die anderen Ritter ihren Anführer da so hilflos liegen sahen, bekamen sie es mit der Angst und rannten davon.

Die Merlauer aber befreiten die eingesperrten Jungfrauen und sperrten Gustav den Schrecklichen in das Verlies tief unten im Turm. Die drei Jungfrauen waren glücklich und umarmten jeden aus dem Dorf. Ohne diese Helfer hätte alles ein schreckliches Ende genommen. Alle Merlauer wurden ins Schloss eingeladen und es wurde im Rittersaal ein großes Fest gefeiert. Von nun an wurde jedes Jahr ein fest auf dem Schloss gefeiert und immer waren alle herzlich willkommen.


Der Ritter Eberhard von Merlau

Ritter Eberhard von Merlau lebte mit seiner Angetrauten namens Adelheid (Alheidis) auf seiner Burg. Er war ein erbitterter Verfolger seiner Ziele mit harten Gesichtszügen und klarem Blick für das Wesentliche, allerdings auch ein Mann, der seine Frau abgöttisch und mit Hingabe liebte. Die strategische Bedeutung seiner Burg war unverkennbar. Auf einem Kirchenhügel gelegen und inmitten eines Sumpfgebietes war sie praktisch uneinnehmbar. Das Wappen derer von Merlau war ein in ROT goldener gekrönter Jungfrauen-Adler, über rot-goldener Decke wachsender gekrönter Löwe zwischen rotem Flug in fantastischen Farben und Ausmaß. Die Herren von Merlau konnten durch ihre geschickte Politik ihre Unabhängigkeit bewahren. Das machte Ritter Eberhard zu einem mächtigen Mann, der Ansprüche geltend machte auf den Kirchenschatz von Felda und andere Güter der Gegend. Die Kirche allerdings behauptete, dass alles ihr gehörte. Doch Eberhard setzte sich nach langem und unerbitterlichem Kampf mit Gewalt in den Besitz des Gewünschten. Versuche des Erzbischoffs zu verhandeln, blieben wegen Eberhards Hartnäckigkeit erfolglos, daher wurde auf einer Kirchenversammlung in Mainz der Kirchenbann über ihn ausgesprochen, mit welchem belastet er stirbt. Um ihm ein geweihtes Grab zu verschaffen, wendet sich seine hinterbliebene Ehefrau an das Kloster Wirberg, das ihn schließlich auf seinem Kirchhof aufnimmt. Dagegen erhebt die Kirche Klage, woraus der Leichnam ausgescharrt muss. Erst ein Versprechen der Angehörigen, Genugtuung zu leisten, bewirkt, dass der Leichnam wieder in sein Grab kommt. Als aber die Genugtuung ausbleibt, wird der Leichnam erneut vom Kirchhof geworfen und die Angehörigen ebenfalls mit dem Bann belegt. Erst jetzt verzichtet die Witwe Adelheid und ihr Sohn auf die Ansprüche. So kommt schließlich eine Vermittlung zustande, die Eberhard vom Bann befreit und ihn in geweihter Erde ruhen lässt. Allerdings soll sein Leichnam erzürnt über all das Geschehen nach seinem Tode nie ganz zur Ruhe gekommen sein. Noch heute kann man an windstillen, sternenklaren Nächten ein leises Fluchen und ein entferntes Klirren von Schwertklingen auf dem Merlauer Kirchenhügel hören, was den Einwohnern jedes Mal erneut einen Schauer über den Rücken jagt.